Reparieren, was kaputt ist oder kaputt machen, was funktioniert: Pendeln zwischen politischen Entscheidungen
Der Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union ist eine große Sache. Es handelt sich um die bedeutendste Reform der europäischen Rechtsvorschriften für Internetplattformen seit zwanzig Jahren. Die EU-Kommission hat zahlreiche neue Regeln vorgeschlagen, um die Herausforderungen zu bewältigen, die die zunehmende Nutzung von Online-Diensten mit sich bringt. Während sie mit dem Vorschlagsentwurf viele Dinge richtig machte – zum Beispiel durch die Festlegung von Transparenzstandards, den Vorschlag, die Löschung von Inhalten einzuschränken und den Nutzer*innen die Möglichkeit zu geben, Zensurentscheidungen anzufechten - zeigten die Signale aus dem EU-Parlament, dass wir uns zu Recht Sorgen darüber machten, wohin sich der DSA entwickeln könnte. Führende Politiker schlugen ein dystopisches Regelwerk vor, das den weit verbreiteten Einsatz von fehleranfälligen Upload-Filtern förderte. Befürworter*innen von Regeln, die jede aktive Plattform (welche ist das nicht?) potenziell für die Kommunikation ihrer Nutzer haftbar machen würden, zeigten, dass nicht jede*r im Parlament aus der umstrittenen EU-Urheberrechtsrichtlinie gelernt hat. Zur Erinnerung: Diese macht Online-Plattformen zu einer Art Internetpolizei, mit einer Sonderlizenz zum Scannen und Filtern von Nutzerinhalten. Zusammen mit unseren Partnern forderten wir das EU-Parlament auf, die Idee eines Filternet Made in Europe abzulehnen, genau so wie die Idee einer Urheberrechtsrichtlinie. Außerdem sollten die Abgeordneten aufhören, die für eine freie und demokratische Gesellschaft wichtigen Pfeiler der E-Commerce-Richtlinie zu untergraben. Da jeder Schritt in die falsche Richtung auf die ganze Welt ausstrahlen könnte, haben wir auch internationale Stimmen in die Debatte eingebracht, wie z. B. die Digital Services Act Human Rights Alliance, die sich für Transparenz, Rechenschaftspflicht und eine an den Menschenrechten orientierte Rechtsetzung einsetzt.
Ausschuss-Abstimmung: Das Parlament hört auf die Stimmen der Zivilgesellschaft
Bei der Abstimmung in dieser Woche haben die Mitglieder des EU-Parlaments (MdEP) gezeigt, dass sie auf die Stimmen der Zivilgesellschaft hören: Auch wenn der wichtige Ausschuss für Binnenmarktangelegenheiten (IMCO) nicht in die Fußstapfen des ambitionierten DSA Berichts aus dem letzten Jahr tritt: Die Abgeordneten setzten sich für den Schutz der Grundrechte ein und stimmten den folgenden Beschlüssen zu:
- Beibehaltung der Haftungsausnahmen für Internetunternehmen: Online-Vermittler werden weiterhin von den „Safe-Harbor“-Regeln profitieren, die sicherstellen, dass sie nicht für von Nutzer*innen bereitgestellte Inhalte haftbar gemacht werden können, es sei denn, sie wissen, dass diese illegal sind und handeln nicht dagegen (Artikel 5);
- Aufrechterhaltung und Stärkung des Verbots der Überwachung im Auftrag: Nach den geltenden EU-Internetvorschriften ist die allgemeine Überwachung von Informationen, die von zwischengeschalteten Diensteanbietern übermittelt oder gespeichert werden, verboten. Damit werden die Meinungsfreiheit der Nutzer und ihr Recht auf personenbezogene Daten gewährleistet, wie es in der Grundrechtecharta verankert ist, die die Grundrechte der Menschen in der EU festschreibt. Die Abgeordneten haben diesen wichtigen Grundsatz beibehalten und klargestellt, dass die Überwachung weder gesetzlich noch de facto, weder durch automatisierte noch nicht-automatisierte Mittel auferlegt werden darf (Art. 7(1));
- Verzicht auf die Einführung kurzer Fristen für die Entfernung von Inhalten: Der Ausschuss hat erkannt, dass strenge und kurze Fristen für die Entfernung von Inhalten, wie sie in gefährlichen Internetgesetzen wie dem deutschen NetzDG oder die der kontroversen EU Urheberrechtsdirektive dazu führen werden legitime Äußerungen und Meinungen zu entfernen und damit das Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigen;
- Keine Einmischung in die private Kommunikation: Der Ausschuss erkannte die Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre im Internet an und lehnte Maßnahmen ab, die Unternehmen dazu zwingen würden, die Kommunikation der Nutzer*innen über private Nachrichtendienste wie Whatsapp oder Signal zu analysieren und wahllos zu überwachen. Auch wenn die Abgeordneten nicht ehrgeizig genug waren, um ein allgemeines Recht auf Anonymität zu fordern, waren sie sich einig, dass die Mitgliedstaaten die Anbieter von Vermittlungsdiensten nicht daran hindern sollten, Ende-zu-Ende-verschlüsselte Dienste anzubieten und Überwachungsmaßnahmen aufzuerlegen, die die anonyme Nutzung von Internetdiensten einschränken könnten (Art. 7(1b)(1c)).
Wir begrüßen diese Vereinbarungen und wissen es zu schätzen, dass der Ausschuss sich verpflichtet hat, wichtige Verfahrensrechte für Nutzer zu billigen. Dies entspricht auch der Empfehlung der EFF. Wir begrüßen das Engagement des Ausschusses, wichtige Verfahrensrechte für Nutzer*innen, wie die Wiederherstellung von Inhalten und Konten, die irrtümlich entfernt wurden (Artikel 17 Absatz 3), und die wichtige territoriale Begrenzung von gerichtlichen oder behördlichen Anordnungen zur Entfernung von Inhalten (Artikel 8 Absatz 2b) zu billigen, die deutlich macht, dass die Regierung eines Landes nicht diktieren sollte, was Einwohner*innen anderer Länder online sagen, sehen oder teilen dürfen.
Wir begrüßen auch den starken Fokus des Ausschusses auf Transparenz. Die Plattformen müssen erklären, wie die Moderation von Inhalten funktioniert und wie viele Moderator*innen für jede Amtssprache zur Verfügung stehen. Sie müssen außerdem Risikobewertungsmechanismen stärken und sprach- und regionalspezifische Risiken bei der Bewertung des systemischen Risikos, das von ihrem Dienst ausgeht, berücksichtigen. Schließlich begrüßen wir die Aufnahme eines ehrgeizigen Verbots von Dark Patterns durch den Ausschuss: Plattformen ist es untersagt, irreführende Design- oder Funktionsentscheidungen zu treffen, die die Fähigkeit der Nutzer zur Kontrolle und zum Schutz ihrer Interneterfahrung beeinträchtigen.
Bedenken bleiben bestehen: Überzogene Durchsetzung, Vertrauensprobleme und Walled Gardens
Wir sind jedoch nach wie vor besorgt, dass der DSA zu einer Überregulierung führen und das Vertrauen in Einrichtungen stärken könnte, denen man nicht unbedingt vertrauen sollte. Wenn der DSA Gesetz wird, wären Online-Plattformen verpflichtet, sensible Nutzerdaten auf Anfrage an außergerichtliche Behörden weiterzugeben. Auch wenn wir die Einführung von Verfahrensgarantien anerkennen – den Plattformen würde das Recht eingeräumt, einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen – fehlen uns hier weiterhin wesentliche Menschenrechtsgarantien. Andere Abschnitte des Gesetzentwurfs enthalten zwar eine Reihe positiver Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission, begünstigen aber immer noch die machtvollsten Akteure. Der Text sieht nach wie vor die Möglichkeit vor, Strafverfolgungsbehörden oder profitorientierten Branchenorganisationen den Status eines „vertrauenswürdigen Flaggenführers" zu verleihen, dessen Meldungen Vorrang vor den von Nutzer*innen eingereichten Meldungen haben müssen. Auch wenn die Bedingungen für die Vergabe des Status eines „Trusted Flagger“ verschärft und mit umfassenden Meldepflichten verbunden wurden, sind weitere Verbesserungen notwendig.
Die Abgeordneten folgten auch nicht dem Beispiel ihrer Kolleg*innen, die vor kurzem einen ersten Schritt in Richtung eines fairen und interoperablen Marktes mit ihrer Abstimmung über den Digital Markets Act (DMA) zurückgelegt haben. Während die DMA-Änderungen eine funktionale Interaktion zwischen Messaging-Diensten und sozialen Netzwerken forderten, unterstützten die Abgeordneten keine Schlüsselbestimmungen, die die Interoperabilität zwischen verschiedenen Diensten sicherstellen würden. Sie haben sich stattdessen für eine hochtrabende, unverbindliche politische Absichtserklärung in der DSA entschieden.
Es wurden nur schrittweise Verbesserungen in Bezug auf die Grenzen der Überwachungswerbung und die Verpflichtung der Plattformen zur Bestellung von Rechtsvertreter*innen im Land eingeführt, was für viele kleine Anbieter aus Nicht-EU-Ländern unerschwinglich ist. Wir bekräftigen auch die Kritik, dass die Zentralisierung der Durchsetzungsbefugnis in den Händen der EU-Kommission mit Demokratiedefiziten verbunden ist und zu einer Vereinnahmung durch Unternehmen führen könnte. Es gibt noch weitere Aspekte des Standpunkts des Ausschusses, die eine Überarbeitung erfordern, wie z.B. die in letzter Minute beschlossene obligatorische Handy-Registrierung für Urheber*innen pornografischer Inhalte, die eine Bedrohung für die digitale Privatsphäre darstellt und das Risiko birgt, dass sensible Informationen von gefährdeten Urheber*innen von Inhalten durch Datenlecks preisgegeben werden.